Ich träume nicht von elektrischen Schafen
Damals hat mich der Mut der Robert Schumann Hochschule angezogen. 2004 entschied sich die Düsseldorfer Musikhochschule, mir als Kreativdirektorin die Professur für Digitale Bildmedien anzubieten – obwohl ich kein klassisches Instrument beherrsche. Im Rückblick scheint das geradezu seherisch, denn in diesem Jahr verbringen die meisten von uns ihre Tage vor digitalen Bildmedien. Seit Mitte März arbeite auch ich fast ausschliesslich von Zuhause und vor einem Bildschirm. Dabei ist mir wichtig, weniger auf das zu achten was fehlt, sondern darauf was anders und neu ist und mich dabei zu fragen, ob und wie ich dies mitgestalten kann.
Zu Beginn der diesjährigen Pandemie und damit der Veränderungen auch meines Arbeitsalltags - von einer mit öffentlichen Verkehrsmitteln pendelnden Professorin hin zur Heimarbeiterin 24/7 - war ich begeistert vom klaren, blauen Himmel, ganz ohne Kondensstreifen, und von der Plastizität des nächtlichen Mondes durch die deutlich verringerte Luftverschmutzung in der Grossstadt. Ich fand es auch entzückend auf meinem Bildschirm - in den vielen unterschiedlichen Konferenzsystemen, die ich benutzen muss, weil es jede Organisation etwas anders haben möchte - herauszufinden, wer sich gerade auf dem Bildschirm in die eigenen Augen schaut. Etwas, das wir bisher in Seminaren und Konferenzen nicht getan haben – also, uns selbst beim reden zuzuschauen. Ich habe versucht zu erraten, wer diesen ganz speziellen Ausdruck im Gesicht hat, wenn sich eine Kamera auf uns richtet und wenn wir uns unserer selbst bewusst werden.
Im Dezember 2020 hat sich mein neuer Tagesablauf eingegroovt; nach wie vor von morgens bis abends zuhause am Bildschirm – vor digitalen Bildmedien als Professorin für eben diese. Meiner anfängliche Faszination ist der Frage gewichen, wie wir die Kommunikation in Onlineseminaren und -konferenzen verbessern können, weil ich glaube, dass wir uns noch eine ganze Weile damit beschäftigen werden. Auch weil ich glaube, dass wir für den Umweltschutz versuchen sollten, einen guten Weg und eine sinnvolle Balance zu finden, um ab jetzt mit weniger Mobilität auszukommen. Vielleicht ist die derzeitige Situation ja auch ein Chance.
Als ich 1982 den Film Blade Runner im Kino sah und später die Romanvorlage las, haben mich die Menschlichkeit und Empathie der Androiden, die Neonlichter im Nieselregen und die Musik unvergesslich berührt. Dreiklangdimensionen. Als die Rheinische Post mich jetzt bat, einen Beitrag für eine Kolumne zu schreiben, die den Titel „Ich habe einen Traum“ trägt, dachte ich aber eher an den Traum von Dr. Martin Luther King Jr. und erinnerte mich, dass heute nicht Viren, Homeoffice oder Digitale Bildmedien wichtig sind, sondern immer noch Dr. Kings unerfüllter Traum. Er sagte in seiner epochalen Rede, „I have a dream that my four little children will one day live in a nation where they will not be judged by the color of their skin but by the content of their character.“
Ich träume also am Ende des in jeder Hinsicht ungewöhnlich interessanten Jahres 2020 davon, dass uns der Schutz unseres Heimatplaneten, z.B. in Form der #FridaysForFuture-Bewegung, sowie Dekolonialisierung, Gleichberechtigung und Feminismus, z.B. durch die #BlackLivesMatter-Bewegung, nicht aus dem Blick geraten, weil wir uns jetzt so viel mit der Ausbreitung von Viren beschäftigen. Das heisst ich träume davon, dass wir erkennen, wie Ehrlichkeit, Respekt und Empathie uns auch dabei helfen, Distanz zur Wildnis zu bewahren und dadurch Viren vielleicht nicht oder zumindest weniger von wilden Tieren zu Menschen übertragen werden. Ich glaube nämlich auch, dass sich elektrische Schafe nicht bei Fledermäusen anstecken.
Heike Sperling 30.11.2020